Ghassan Hage und die Universität Mainz
Ghassan Hage, ein Anthropologe, der seit langem problematisch zu Israel forscht – in seinem Fach nicht nur unwidersprochen, sondern oft auch goutiert –, wurde nach menschenverachtenden Äußerungen zum 7. Oktober 2023 von der Max-Planck-Gesellschaft als Gastprofessor entlassen. Doch statt dies als Warnsignal zu sehen, lud der Sonderforschungsbereich „Humandifferenzierung“ der Universität Mainz ihn als Redner ein. Jüdische Stimmen, die dagegen protestierten, wurden marginalisiert, während Unterstützer:innen seinen Hass als legitime Kritik verteidigten. Ein Fall, der exemplarisch für den Umgang mit Antisemitismus in der akademischen Welt und die Delegitimierung jüdischer Perspektiven nach dem 7. Oktober steht.
Ein Symposium mit bitterem Beigeschmack
Unter dem Titel „Sorting People into Kinds“ fand Anfang Dezember 2024 ein dreitägiges Symposium in Mainz statt.[1] Die Veranstaltung sollte sich mit der Frage befassen, wie Menschen aufgrund von Nationalität, Geschlecht oder anderen Merkmalen in Gruppen eingeteilt und hierarchisiert werden. Eingeladen waren weltweit anerkannte Wissenschaftler:innen – darunter Ghassan Hage, der in seinem Vortrag den Gebrauch von Tiermetaphern zur Rassifizierung von Menschen analysieren wollte.
Auf den ersten Blick scheint Hages Einladung naheliegend: Als Anthropologe hat er sich intensiv mit Themen wie Migration und Diskriminierung beschäftigt und seine Arbeiten, allen voran White Nation[2], genießen internationale Beachtung. Doch Hage arbeitet nicht nur wissenschaftlich, sondern äußert sich – entgegen seiner Behauptung, zu wenig Zeit für Aktivismus zu haben[3] – auf seinem Blog und auf Twitter regelmäßig zu politischen Themen. Dabei sieht er sich einer antirassistischen und antifaschistischen Ethik verpflichtet, die die Solidarität mit Unterdrückten vorsieht.
Doch bereits ein kurzer Blick in seinen Twitteraccount entlarvt, wie Hages Anspruch von Ethik mit seinem Handeln kollidiert: Unmittelbar nach dem 7. Oktober glorifizierte er die Angriffe der Hamas, indem er schrieb: „And the Palestinians, like all colonised people, are still proving that their capacity to resist is endless. They don’t only dig tunnels. They can fly above walls.“[4] Wenige Wochen später bezeichnete er Israel als „supremacist bully“[5] und erklärte, die israelische Besatzung sei „diabolisch“[6] und verantwortlich für die Eskalation der Gewalt. Im Januar 2024 schließlich teilte der Autor einen Tweet des palästinensischen Politikers Mustafa Barghuti, in dem dieser unter Bezugnahme auf die israelische Zeitung Haaretz behauptete, dass an den Leichen der am 7. Oktober ermordeten Frauen keine Spuren sexualisierter Gewalt entdeckt worden seien [7] (s. Screenshot). Haaretz selbst wehrte sich gegen diese Instrumentalisierung ihres Artikels und betonte, nichts dergleichen resümiert zu haben[8] – eine Klarstellung, die Hage nachträglich nicht für erwähnenswert hielt.

Hage, Ghassan, in: X, 05.01.2024, Post mittlerweile gelöscht.
Grundprinzipien feministischer Kritik, etwa ein Vertrauensvorschuss gegenüber mutmaßlichen Opfern sexueller Gewalt, gelten für Hage offenbar nicht, wenn es sich um Israelis oder Jüdinnen und Juden handelt. Besonders frappierend ist dies im Kontrast zu seiner Empathie gegenüber getöteten Frauen und Kindern auf palästinensischer Seite, für die er – berechtigterweise – Mitgefühl und Aufmerksamkeit einfordert.[9] Augenscheinlich ist seine moralische Empörung selektiv und abhängig von der politischen Agenda, die sie stützt.
Sein universeller Anspruch auf Antifaschismus hat ähnliche Grenzen: Während Hage etwa zu einem antisemitischen Anschlag auf eine Synagoge in Melbourne schwieg, obwohl er an der University of Melbourne als Professor tätig ist, äußert er sich mit großem Engagement, wenn es darum geht, israelische Politik zu verurteilen. Von Holocaustrelativierungen bis zur Täter-Opfer-Umkehr greift Hage auf seinen Social-Media-Kanälen tief in die Trickkiste des nicht erst seit dem 7. Oktober grassierenden Antisemitismus.
Wie Hage diese Sichtweise mit seinem Selbstverständnis als Antirassist und Antifaschist vereinbart und welche ideologischen Grundlagen seinem Weltbild zugrunde liegen, verdient eine genauere Betrachtung – stehen sie doch stellvertretend für eine ganze Riege von Intellektuellen, die sich nach dem 7. Oktober ähnlich positioniert haben.
Zwischen Ideologie und Wissenschaft
Hages Weltbild ist von einer ideologischen Verengung geprägt, die die postkoloniale Theorie auf eine simple Dichotomie von Unterdrücker:innen und Unterdrückten reduziert. Für ihn ist Israel der ultimative koloniale Aggressor, dessen Existenz ausschließlich auf militärischer Stärke beruhe.[10] Zionismus, so Hage, sei nicht eine historisch gewachsene Antwort auf Jahrhunderte antisemitischer Verfolgung und Shoah.
Hage lehnt die Erklärung, dass die Staatsgründung Israels auch eine Reaktion auf den Holocaust sei, kategorisch ab. Er bezeichnet diese Argumentation als politisch motivierte Agenda, die Antisemitismus instrumentalisiere, um Kritik an Israels genozidalen Kriegen abzuwehren. Stattdessen konstruiert er Israel ahistorisch als Teil einer globalen Erzählung der Kolonisierung, in der der Holocaust nicht als historische Tragödie verstanden wird, sondern als Mittel, um Unterdrückung zu rechtfertigen.[11] Ein klassisches Beispiel für die Täter-Opfer-Umkehr im Post-Shoah Antisemitismus.
Diese vereinfachte Weltsicht dient Hage nicht nur als ideologischer Rahmen, sondern auch zur Stabilisierung seiner politischen Identität: Dabei konstruiert er eine „community of the good“[12], in der Antizionismus als moralisches Abzeichen fungiert, und zieht eine klare Trennlinie zwischen ‚Guten‘ und ‚Bösen‘. Innerhalb dieser Gemeinschaft wird jegliche Solidarität mit Israel oder Kritik an palästinensischen Positionen als Verrat an universellen Werten gebrandmarkt. Der Kampf gegen Israel wird so zum zentralen Element einer moralischen Selbstvergewisserung, die Hages politische und intellektuelle Autorität untermauern soll.
In dieser Perspektive wird die radikale Ablehnung des Zionismus zu einem moralischen Imperativ, während jede Form des palästinensischen Widerstands – ob gewaltfrei oder nicht – romantisiert und glorifiziert wird. Gleichzeitig greift Hage die Legitimität jüdischer nationaler Selbstbestimmung an, indem er sie als Teil eines größeren kolonialen Projekts darstellt. Diese Sichtweise erlaubt es ihm, antisemitische Narrative als antirassistische und antifaschistische Prinzipien zu inszenieren, während er jede Gegenrede als Versuch abtun kann, palästinensische Stimmen zum Schweigen zu bringen.
Dieses Weltbild ist nicht nur politisch gefährlich, sondern untergräbt auch seine Glaubwürdigkeit als seriöser Wissenschaftler. Es blendet Differenzierungen und historische Komplexität aus und reduziert den Nahostkonflikt auf eine moralische Erzählung, in der Israel immer der Täter und jede Gewalt gegen den jüdischen Staat immer (zumindest implizit) gerechtfertigt ist.
Alter Wein in neuen Schläuchen
In all seiner Vorhersehbarkeit folgt Hages Weltbild dabei dem Muster, das Ingo Elbe jüngst in seinem Buch Antisemitismus und postkoloniale Theorie[13] analysiert hat. Hage wird zum Prototyp des Intellektuellen nach dem 7. Oktober 2023: Seine Rhetorik kombiniert die Dämonisierung Israels mit einer obsessiven Täter-Opfer-Umkehr, die Israel als koloniales Unterdrückungsprojekt delegitimiert – wobei sich Antisemitismus in dieses Weltbild nahtlos einfügt oder innerhalb dieses Weltbildes ständig relativiert wird.
Hages Obsession mit Israel ist auch seinem ehemaligen Arbeitgeber nicht entgangen. Im Februar 2024 wurde Hage von der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) als Gastprofessor entlassen, nachdem seine wiederholt antisemitischen und terrorverharmlosenden Aussagen durch eine Recherche der WELT zum Politikum geworden waren. Die MPG erklärte dazu unmissverständlich, dass das Max-Planck-Institut keinen Platz für „Rassismus, Islamophobie, Antisemitismus, Diskriminierung, Hass und Hetze“[14] habe.
Hages Reaktion auf die Entlassung wiederum zeigte die Koordinaten seines Weltbildes einmal mehr auf: Er inszenierte sich als Opfer einer internationalen Diffamierungskampagne, die vor allem von deutschen Aktivist:innen vorangetrieben werde. Nach Hages Lesart projiziere Deutschland seine unaufgearbeitete Nazivergangenheit auf Israel, wodurch sich eine unkritische Solidarisierung mit dem jüdischen Staat ergebe. Israel wird dabei zur Verkörperung der ‚neuen Nazis‘ stilisiert, während die Deutschen durch diese Identifikation ihre eigene Schuld verdrängten und zugleich die Gewalt Israels rechtfertigten.[15]
Seine Gegner bezeichnet er deshalb konsequent als „right wing“[16]-Aktivist:innen und „ideological assassins“[17], die Recherche der WELT diffamierte er als „a fascistic ideological assassination job“[18]. Für Hage ist dies ein weiteres Kapitel in der Geschichte, in dem das „self-congratulatory transnational consortium of colonialists“[19] den Verlier:innen des kapitalistischen Ausbeutersystems – Palästinenser:innen, indigene Gruppen und letztlich auch er selbst – unversöhnlich gegenübersteht. Dabei wird zumeist gar nicht klar, wen seine Kritik eigentlich genau adressiert. Wiederholt spricht er auf Twitter oder in seinem Blog von einem nebulösen „they“, dessen Attacken er sich kontinuierlich ausgesetzt sieht.
Das Problem dabei: Durch die Vagheit von „they“ werden alle Kritiker:innen über einen Kamm geschoren – egal, ob ihre Einwände legitim sind oder nicht. Gleichzeitig ordnet Hage sie einem weltumspannenden Unterdrückungssystem zu, das per se als illegitim erscheint. Diese Ungreifbarkeit macht „they“ zu einer beliebigen Projektionsfläche, auf die alles (ab-)geladen werden kann, was sich Hage und seine Unterstützer:innen darunter vorstellen.
Wie diese Logik in der Praxis funktioniert, zeigt sich exemplarisch an der Reaktion des breiten Bündnisses an Unterstützer:innen, das sich – wie in ähnlichen Fällen – hinter Hage formierte und nicht seine Aussagen, sondern den Umgang mit Hages Person durch das MPI problematisierte. Besonders in akademischen Kreisen wurde argumentiert, dass die Kritik an Hage kein Ausdruck antisemitismuskritischer Anliegen sei, sondern ein rassistischer Versuch, den Libanesen Hage zum Schweigen zu bringen, weil er ‚truth to the power‘ spricht. Diese Kritik wurde zudem als Teil eines größeren Systems dargestellt, das systematisch pro-palästinensische Stimmen unterdrücke.[20]
Welche Dynamiken diese identitätspolitische Argumentation entwickeln kann, zeigt sich etwa an einer Petition, die von Wissenschaftler:innen aus aller Welt initiiert wurde und sich demonstrativ hinter Hage stellte.[21] Die Unterzeichnenden rechtfertigten ihre Unterstützung für Hage mit den Grundsätzen der Menschenrechte, zu denen es offenbar auch gehört, die sexualisierte Gewalt an Frauen am 7. Oktober in Zweifel zu ziehen, die Politik Israels in eine Reihe mit nationalsozialistischen Mordbanden und spanischen Konquistadoren zu stellen oder den 7. Oktober als legitimen Akt des Widerstandes zu glorifizieren.
Auffällig dabei: Entgegen den Verlautbarungen von Hage und seinen zahlreichen Unterstützer:innen gab es abseits von BILD und WELT kaum nennenswerte Kritik an Hage oder gar eine dezidierte Auseinandersetzung mit seinem Werk – kritische Stimmen regten sich wie üblich nahezu ausschließlich innerhalb der jüdischen Community und ihren wenigen Unterstützer:innen. Doch wie fügt sich dieser Umstand in Hages Narrativ ein, wonach der Westen unverbrüchlich an der Seite Israels stehe und Kritiker:innen systematisch mundtot mache?
In der Realität nämlich zeigt sich ein anderes Bild: Die antisemitischen Skandale der letzten Jahre – von der documenta 15 bis zu Hubert Aiwanger – führten nicht wie ständig kolportiert zur ‚Existenzvernichtung‘. Im Gegenteil: In Deutschland lässt sich nach wie vor auf dem Boden ‚legitimer Israelkritik‘ eine beachtliche Karriere aufbauen oder fortführen, während Jüdinnen und Juden Diffamierungen, Delegitimierungen und Diskriminierung ausgesetzt bleiben.[22]
Auch im vorliegenden Fall verlor Hage zwar seine Anstellung als Gastwissenschaftler, doch keineswegs seine Reputation. Weiterhin werden seine Äußerungen als legitime Israelkritik wahrgenommen und er bleibt eine prominente Figur innerhalb postkolonialer akademischer Kreise. Zudem behält er seine Professur in Melbourne, was einmal mehr beweist, dass Hages Positionen innerhalb seines Faches kein Ausschlusskriterium sind – das Gegenteil ist offenbar der Fall. Die Einladung Hages durch den Sonderforschungsbereich „Humandifferenzierung“ in Mainz reiht sich konsequent in dieses Muster ein: Statt die klare Linie der MPG zu übernehmen, entschied sich der SFB, die Kontroversen zu ignorieren, Kritik abzuwehren und Hage eine Plattform zu bieten.
„Der ‚Genozid‘ des einen ist der ‚Kollateralschaden‘ des anderen“
Schon im Vorfeld des Symposiums regten sich Proteste. Der Jüdische Studierendenverband Rheinland-Pfalz und Saarland (HINENU), die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD) und die Initiative Interdisziplinäre Antisemitismusforschung Trier (IIA) kritisierten die Einladung Hages als unverantwortlich. In einer gemeinsamen Stellungnahme betonten sie: „Sich gegen Antisemitismus einzusetzen bedeutet auch, Verantwortung für jüdische Studierende, Mitarbeitende und Gäste des Symposiums zu übernehmen. Der Sonderforschungsbereich setzt diese Verantwortung jedoch zugunsten eines Mannes aufs Spiel, der sich durch antisemitische Aussagen und die Verharmlosung von Terror hervorgetan hat.“[23] Die Protestierenden forderten nicht nur eine Rücknahme der Einladung, sondern auch ein klares Bekenntnis der Universität Mainz sowie des SFB gegen Antisemitismus.
Am 05.12. reagierten die Universität und der SFB schließlich jeweils mit einem Statement auf die Kritik, die mittlerweile auch in den sozialen Medien Verbreitung gefunden hatte.[24]
Auf den ersten Blick wirkten die Stellungnahmen wie der Versuch, die Proteste zu beschwichtigen: Die Universität stünde für Vielfalt, Toleranz und ein respektvolles Miteinander, sei ein Ort des freien Meinungsaustauschs und des kontroversen Diskurses – und habe als solcher natürlich keinen Platz für „diskriminierende“ und „diffamierende“ Äußerungen. Doch diese abstrakten Bekenntnisse verlieren an Glaubwürdigkeit, wenn sie im selben Atemzug diskriminierende Haltungen mit dem „diffamatorischen[] Gebrauch von Begriffen wie ‚Rassist:in‘ oder ‚Antisemit:in‘“ auf eine Stufe gestellt werden.
Diese Gleichsetzung offenbart, was die Universität offenbar unter einem entschiedenen Einsatz gegen Diskriminierung versteht: eine vermeintliche Ausgewogenheit, die selbst dort eine ‚Balance‘ sucht, wo sie die Grenze zwischen Opfer und Täter verwischt: Anstatt antisemitische Narrative als solche zu benennen, inszeniert man Diskriminierung und deren Zurückweisung als gleichwertige Extreme, die es gleichermaßen zu vermeiden gelte. Auf den Punkt gebracht wird diese Logik durch die Formulierung des SFB, der „‚Genozid‘ des einen ist der ‚Kollateralschaden‘ des anderen.“
Die Kritik an Hages Positionen erscheint innerhalb dieser Logik in einer Kontinuitätslinie mit irrationalen Positionen, die getötete Zivilisten als „Kollateralschaden“ abtun oder einen Krieg als „Genozid“ werten. Antisemitismus, genau wie seine Kritik, scheinen vor diesem Hintergrund keine klar definierbaren, analytischen Kategorien, sondern Positionen auf dem Meinungsspektrum zu sein, die im ‚freien Meinungsaustausch‘ ausgehandelt werden und müssen – vorausgesetzt natürlich, die Kritik ist nicht ‚diffamatorisch‘. Antisemitismus wird dabei auf ein subjektives Empfinden reduziert; auf einen ‚Vorwurf‘, der je nach Perspektive zutreffen könne oder nicht. Diese Relativierung ignoriert jedoch die historische und wissenschaftliche Nachweisbarkeit antisemitischer Narrative, die analytisch auf der Inhalts-, nicht der Gefühls-ebene verhandelt werden muss.
Doch dieser inhaltlichen Auseinandersetzung verwehren sich sowohl die Universität als auch der SFB. Statt sich mit den Inhalten und Aussagen von Hages Werk auseinanderzusetzen, wird der Konflikt auf eine identitätspolitische Ebene verschoben. So verweist der SFB in seiner Stellungnahme beispielsweise auf die Teilnahme israelischer und jüdischer Wissenschaftler:innen am Symposium, um den ‚Vorwurf‘ des Antisemitismus schlicht durch deren jüdische Identität zu entkräftigen. Einer inhaltlichen Auseinandersetzung verwehrt man sich mit Hinweis auf die Stellungnahmen internationaler Fachgesellschaften.
Diese Verschiebung ermöglicht es dem SFB, eine Trennung zwischen der ‚wissenschaftlichen‘ und der ‚politischen‘ Person Hages zu konstruieren; er sei als Wissenschaftler eingeladen, nicht als Aktivist, heißt es in der Stellungnahme. Doch genau hier liegt das Problem: Hage selbst trennt diese beiden Rollen nicht. Vielmehr integriert er seine politischen Überzeugungen systematisch in seine wissenschaftliche Arbeit und andersherum– ein Ansatz, der sich in seinem bekannten Aufsatz „Hating Israel in the Field“[25] besonders deutlich zeigt.
In diesem Text beschreibt Hage, wie sein „Hass“ auf Israel während des Libanonkriegs 2006 seine theoretischen Überlegungen beeinflusst und bereichert habe. Er präsentiert diesen Hass nicht als persönliche Voreingenommenheit oder Herausforderung für seine wissenschaftliche Tätigkeit, sondern als eine produktive Kraft, die es ihm ermögliche, die Welt ‚klarer‘ zu sehen. Hage erhebt seine politischen Emotionen zur Grundlage seiner Analysen, wodurch seine persönliche Ideologie und seine wissenschaftlichen Aussagen untrennbar miteinander verschmelzen. Dies untergräbt nicht nur den Anspruch des SFB auf wissenschaftliche Distanz, sondern macht deutlich, dass die Behauptung, Hage sei als Wissenschaftler und nicht wegen seiner ‚Polemiken‘ eingeladen worden, die Realität seiner Arbeitsweise verkennt.
„Hating Israel in the Field“ gilt in der Ethnologie als Standardtext – ein Status, der viel über die Problemlage innerhalb dieses akademischen Feldes aussagt. Wenn ein solcher Text als wissenschaftlicher Standard akzeptiert wird, erscheint es kaum verwunderlich, dass weder der SFB noch Hages Unterstützer:innen die Problematik hinter Hages Aussagen zu erkennen scheinen bzw. diese erkennen wollen.
Proteste vor verschlossenen Türen
Sowohl die Universität als auch der SFB hatten in ihren Stellungnahmen betont, einen Raum für freien und kontroversen Austausch schaffen zu wollen, und dabei ausdrücklich zu einem kritischen Dialog eingeladen. Diese Einladung wurde am Tag des Vortrags von einer Gruppe Studierender angenommen, die sich inhaltlich mit der Einladung Hages auseinandersetzen und ihre berechtigte Kritik äußern wollten.
Während der Veranstaltung selbst spitzte sich die Situation jedoch weiter zu: Jüdische Studierende und solidarische Unterstützer:innen berichteten, sie seien an den verschlossenen Türen des Veranstaltungsortes abgewiesen und in entwürdigender Weise befragt worden. Ohne Grundlage wurde den Versammelten unterstellt, sie wollten die Veranstaltung mit einer Störaktion verhindern. Ein Mitglied von HINENU wurde dabei explizit gefragt, ob es „Trillerpfeifen“ bei sich führe, während andere ihre Beweggründe für die Teilnahme rechtfertigen mussten. Schließlich durften sie den Vortrag nicht besuchen: Sie wurden kollektiv an der Tür abgewiesen. David Rosenberg, Vorsitzender von HINENU, kritisierte: „Es ist ein Skandal, dass Jüdinnen und Juden sowie solidarische Unterstützende ausgeschlossen werden, wenn sie ihrer Verantwortung als Mitglieder der akademischen Gemeinschaft nachkommen und berechtigte Kritik an der Einladung eines überzeugten Antisemiten äußern möchten.“[26]
Die Normalisierung von Antisemitismus
Die Einladung Ghassan Hages darf nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss vor dem Hintergrund sich häufender antisemitischer Vorfälle an der Universität Mainz seit dem 7. Oktober analysiert werden. Wiederholt wurde in den letzten Monaten am Mainzer Campus terrorverherrlichende Propaganda verteilt und Stände mit Hamas-Apologetik betrieben. Besonders auffällig war nach Angaben von HINENU die Aktivität des Fridays-for-Future-Aktivisten Hasan Özbay, der für antisemitische Statements international bekannt wurde. Özbay sei am Mainzer Campus aktiv und schrecke auch nicht vor Einschüchterungsversuchen zurück.[27]
Bereits im Juni 2024 hatten HINENU und weitere Studierendengruppen vor diesem Hintergrund die Bedrohungslage für jüdische Studierende in einem Statement zum Ausdruck gebracht und die die Universität aufgerufen, für die Sicherheit der Jüdinnen und Juden auf dem Campus Sorge zu tragen.
Dass der SFB in einem solchen Klima eine Einladung an Hage aussprach – einen Wissenschaftler, der durch seine Verharmlosung von Terror und antisemitischen Äußerungen bekannt ist –, musste zwangsläufig die Verunsicherung der jüdischen Studierenden weiter verschärfen und ihr Sicherheitsempfinden nachhaltig beeinträchtigen. Statt ein Umfeld zu schaffen, in dem jüdische Stimmen gehört und geschützt werden, entschied sich der SFB bewusst, kritische Einwände abzutun und ihnen wortwörtlich die Tür vor der Nase zuzuschlagen.
Weckruf für die Wissenschaft
Der Fall Hage steht also exemplarisch für ein weitreichenderes Problem: die Normalisierung antisemitischer Narrative innerhalb akademischer und öffentlicher Diskurse und damit eine schleichende Erosion jüdischer Schutzräume an deutschen Universitäten. Der Umgang mit Antisemitismus wird entpolitisiert und auf eine subjektive Meinung reduziert – verhandelbar im ‚freien Meinungsaustausch‘, oft ohne Berücksichtigung der Erfahrungen und Sicherheitsbedenken jüdischer Gemeinschaften oder den Forschungsergebnissen der Antisemitismusforschung.
Diese Entwicklung ist kein Einzelfall, sondern Ausdruck eines größeren Problems: Der Schutz jüdischer Stimmen wird zugunsten einer vermeintlichen Ausgewogenheit aufgegeben, die Täter und Opfer auf eine Stufe stellt. Das Ergebnis ist eine erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber den Sicherheitsinteressen und dem Wohlergehen jüdischer Menschen auf dem Campus, die sich zunehmend marginalisiert und entmutigt fühlen.
Universitäten und wissenschaftliche Institutionen müssen endlich ihrer Verantwortung gerecht werden, Antisemitismus nicht nur als historischen, sondern als gegenwärtigen und analytisch greifbaren Diskurs zu adressieren. Universitäten, die sich gern als liberale und plurale Räume inszenieren, scheitern genau dort, wo es darauf ankommt, Antisemitismus nicht nur zu verurteilen, sondern konsequent zu bekämpfen.
Es reicht nicht, Prinzipien von Vielfalt und Toleranz zu beschwören, wenn sie in der Praxis durch Gleichsetzungen und Relativierungen untergraben werden. Der Schutz jüdischer Stimmen und die klare Positionierung gegen antisemitische Narrative dürfen keine bloßen Lippenbekenntnisse bleiben, sondern müssen sich in konkreten Handlungen und einer konsequenten Haltung gegen Diskriminierung widerspiegeln.
Wissenschaftliche Freiheit bedeutet nicht, menschenfeindliche Positionen zu legitimieren, sondern erfordert die Verpflichtung zur kritischen Reflexion und Verteidigung demokratischer Werte. Der Fall Hage ist ein Weckruf, der deutlich macht, dass die Normalisierung antisemitischer Narrative nicht nur die jüdische Gemeinschaft betrifft, sondern auch die Integrität des akademischen Diskurses und die Grundwerte unserer Gesellschaft untergräbt. Es ist an der Zeit, klare Grenzen zu ziehen und Verantwortung zu übernehmen – für jüdische Studierende, für die Wissenschaft und für die Zukunft eines demokratischen Miteinanders.
Belege
[1] Zum Programm und inhaltlichen Rahmung des Symposiums: https://humandifferenzierung.uni-mainz.de/event/sorting-people-into-kinds-perspectives-on-human-differentiation
[2] Hage, Ghassan (1998): White Nation. Fantasies of White Supremacy on a Multicultural Society. London, New York: Routledge.
[3] Vgl. Hage, Ghassan: Statement Regarding my sacking from the Max Planck Institute of Social Anthropology, in: ARENA, https://arena.org.au/statement-regarding-my-sacking/, 09.02.2024 (Abgerufen: 14.02.2025).
[4] Hage, Ghassan: Israel-Palestine: The Endless Dead-End That Will Not End, in: Hage Ba’a, http://hageba2a.blogspot.com/2023/10/israel-palestine-endless-dead-end-that.html, 07.10.2023 (Abgerufen: 14.02.2025).
[5] Hage, Ghassan, in: X, https://x.com/anthroprofhage/status/1741210569523212710, 30.12.2023 (Abgerufen: 14.02.2025).
[6] Hage: The Endless Dead-End.
[7] Hage, Ghassan, in: X, 05.01.2024, Post mittlerweile gelöscht (s. Screenshot).
[8] Vgl. Rozowski, Lisa: חוקרת פשעי המין ב-7 באוקטובר: „אנחנו מאמינים שיש קורבנות שלא מסרו עדות. אני זמינה עבורם“, in Haaretz.co.il, https://www.haaretz.co.il/news/law/2024-01-04/ty-article/.premium/0000018c-d3e4-ddba-abad-d3e502980000 (Abgerufen: 14.02.2025). Zitat aus dem Artikel: „“Although there is a lot of documentation from the massacre scenes of bodies that appear to have been sexually assaulted, the investigators are still busy looking for additional reinforcements for the evidence and testimonies they have.“
[9] Vgl. Hage, Ghassan, in: X, https://x.com/anthroprofhage/status/1836931719141937272 , 20.09.2024 (Abgerufen: 14.02.2025).
[10] Hage, Ghassan, in: X, https://x.com/anthroprofhage/status/1838418978013876429, 24.09.2024 (Abgerufen: 12.02.2025).
[11] Vgl. Hage, Ghassan: The Metamorphosis of Daniele the Zionist, in: Hage Ba’a, http://hageba2a.blogspot.com/2024/03/the-metamorphosis-of-daniele-zionist.html, 05.03.2024 (Abgerufen: 12.02.2025).
[12] Vgl. Hirsh, David (2018): Contemporary Left Antisemitism. London, New York: Routledge.
[13] Elbe, Ingo (2024): Antisemitismus und postkoloniale Theorie. Der „progressive“ Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung. Berlin: Edition TIAMAT.
[14] o.V: Stellungnahme der Max-Planck-Gesellschaft zu Ghassan Hage, in: mpg.de, https://www.mpg.de/21510533/stellungnahme-ghassan-hage, 07.02.2024 (Abgerufen: 12.02.2025).
[15] Vgl. Hage, Ghassan: Gaza and the coming age of the ‘warrior’, in: Allegra Lab. Anthropoly for radical optimism, https://allegralaboratory.net/gaza-and-the-coming-age-of-the-warrior/?print=pdf (Abgerufen: 12.02.2025).
[16] Hage, Ghassan, in: X, https://x.com/anthroprofhage/status/1753800123568546096, 03.02.2024 (Abgerufen: 12.02.2025).
[17] Hage, Ghassan, in: X, https://x.com/anthroprofhage/status/1754136806142976321, 04.02.2024 (Abgerufen: 12.02.2025).
[18] Hage: Statement Regarding my sacking from the Max Planck Institute.
[19] Hage: The Endless Dead-End.
[20] Vgl. ebd.
[21] Vgl. o.V.: Support Professor Ghassan Hage Against Vile and Vicious Smear Campaign, in: www.change.org, https://www.change.org/p/support-professor-ghassan-hage-against-vile-and-vicious-smear-campaign, 04.02.2024 (Abgerufen: 12.02.2025).
[22] Vgl. hierzu auch Ott, Monty (2024): Ausnahmezustand?! Zum Status Quo von Antisemitismusforschung und -kritik nach dem 7. Oktober 2023. In: These Acht – Blog für Antisemitismusforschung und -kritik, URL: https://these-8.de/monty-ott/ausnahmezustand/ (Zugriff am 3.7.2024).
[23] Gemeinsame Stellungnahme von HINENU, JSUD und IIA: https://www.instagram.com/p/DDhGnUJMzib/?img_index=1 (Abgerufen 12.02.2025).
[24] Stellungnahmen der Universität sowie des Sonderforschungsbereichs Humandifferenzierung.
[25] Hage, Ghassan (2009): Hating Israel in the Field: On Ethnography and Political Emotions. In: Anthropological Theory, 9 (1), 59–79.
[26] Die entsprechende Stellungnahme befindet sich im Anhang.
[27] Vgl. Statement des Jüdischen Studierendenverbandes Rheinland-Pfalz und Saarland: https://www.instagram.com/p/C8XFNq8sN7-/?img_index=1 (Abgerufen: 12.02.2025).
Zitationsvorschlag
Schmidt, Lennard (2025): Akademischer Antisemitismus nach dem 7. Oktober: Ghassan Hage und die Universität Mainz. In: These Acht – Blog für Antisemitismusforschung und -kritik, 17.02.2024. URL: https://these-8.de/lennard-schmidt/akademischer-antisemitismus-nach-dem-7-oktober-ghassan-hage-und-die-universitat-mainz/ (Zugriff am XX.XX.XX).
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