Ausnahmezustand?!

Ausnahmezustand?!

Zum Status Quo von Antisemitismusforschung und -kritik nach dem 7. Oktober 2023



Ich bin dankbar und fühle mich geehrt, den Eröffnungsvortrag dieser so prominent benannten Reihe halten zu dürfen. Bevor ich mich meinem eigentlichen Thema widme, möchte ich noch ein paar Worte zu dem berühmten Namensgeber verlieren.

Moishe Postone war nicht ohne Widersprüche zu haben. Nicht nur, weil er die gesellschaftlichen durchschaute und unnachahmlich analysierte, sondern auch, weil er sich gegen jegliche Vereinnahmung wehrte. Geprägt war sein Denken von der Gewalt- und Vernichtungserfahrung des jüdischen Volkes. Insofern kann es kaum verwundern, dass die Beharrlichkeit des „Gerüchts über die Juden“ innerhalb der deutschen Linken Entsetzen bei ihm auslöste. Und dennoch war zum Beispiel zurückhaltend, als er die „Occupy“-Bewegung 2011 kritisierte. Er verlange nicht, „daß, wer protestiert, alle drei Bände des Kapitals gelesen haben muß“ und hielt der Bewegung zugute, „daß sie – das gilt zumindest für die Vereinigten Staaten – auf die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft aufmerksam gemacht hat.“[1]

Trotz seiner bestechend scharfen Kritik an der Linken blieb er zeitlebens ein Teil von ihr. Er hatte seinen intellektuellen Standpunkt gefunden, ohne dabei ein freischwebender Intellektueller zu sein. Von diesem Standpunkt aus erkannte er die Versuche konservativer Politiker*innen, durch den „proamerikanischen Atlantizismus“ die Normalisierung Deutschlands und damit den Schlussstrich voranzutreiben.[2] Und den „Antiimperialismus der Linken”, so schreibt es Stephan Grigat in einem Nachruf, „dechiffrierte er […] als plumpen Antiamerikanismus und alternative Form der Schuldabwehr.“[3] Anders als einige Linke, die auf das Erstarken der extremen Rechten mit einem linken Populismus reagieren wollten, setzte er auf die Macht der Kritik. Er füllte mit seiner Antisemitismusanalyse Leerstellen in der historischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.[4]

Angesichts des Versagens der deutschen Linken im Kontext der Bitburg-Kontroverse – als 1985 Bundeskanzler Helmut Kohl und der US-Präsident Ronald Reagan einen Soldatenfriedhof in Bitburg besuchten, auf dem auch SS-Soldaten lagen – schrieb Postone in seinem offenen Brief – und daran werden noch weitere meiner Ausführungen anschließen –, ich zitiere:

„Es ist der Punkt, daß Ihr Deutsche seid, und daß – wenn Ihr nicht die Verantwortung übernehmt, Euch der Nazi-Vergangenheit zu stellen – auch Ihr mitschuldig seid an der Übertragung und Reproduktion des Systems von Lügen und kollektiver Verdrängung, das seit 1945 für Deutschland charakteristisch war – weil die Deutschen es versäumten, sich selbst zu befreien. Es kann auf der Grundlage einer Leugnung der Vergangenheit oder des Versuchs, ihr zu entfliehen oder sie zu ignorieren, kein anderes Deutschland geben. Es gibt in der Tat nur zwei Möglichkeiten: Eine endgültige Versöhnung mit dieser Vergangenheit oder aber der konstante, d.h. in fortwährender Auseinandersetzung zu vollziehende Bruch mit ihr.“[5]

Nach diesen Vorbemerkungen zum Namensgeber der Reihe sei noch gesagt, dass ich mir wünschen würde, diesen Vortrag unter anderen Umständen halten zu können. Inzwischen sind es fast 8 Monate seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Dieser hat die Welt in ein Vorher und ein Nachher geteilt. Es gibt keine Rückkehr in den Status quo ante.

Ich möchte mich unter dem Titel „Ausnahmezustand?!“ damit beschäftigen, inwiefern Antisemitismusforschung und -kritik dazu geeignet sind, bei aller Polemik und Komplexität gegenwärtiger Diskurse zu vermitteln. Was meine ich, wenn ich von Polemik und Komplexität spreche? Darauf möchte ich im ersten Teil meines Vortrags eingehen, ehe ich im zweiten Teil versuchen werde, die Leitfrage zu beantworten.

Teil 1: Status Quo / Polemik und Komplexität

Als am 7. Oktober 2023 die palästinensische Terrororganisation Hamas ihre „Operation Al-Aqsa-Flut“ in Gang setzte, dürfte sie selbst überrascht gewesen sein. Zwar hat sie sich seit ihrer Gründung zum Ziel gesetzt, den jüdischen Staat zu vernichten. Doch dürften die Erwartungen nicht gewesen sein, dass man mit diesem Angriff tatsächlich das existenzielle Sicherheitsversprechen des jüdischen Staates so massiv in Frage stellen konnte.

Zwar hatten Geheimdienste und Überwachungseinheiten der israelischen Verteidigungskräfte seit Monaten davor gewarnt, dass offenbar ein Überfall geprobt wurde, doch schienen diese Warnungen von Seiten der Regierung Benjamin Netanyahus nicht ernst genug genommen worden zu sein. Die Überwachungseinheiten bestanden vor allem aus Frauen, deren Beobachtungen von den Vorgesetzten nicht ernst genommen wurden. Gestern wurde ein Video veröffentlicht, auf dem Naama Levy, Liri Albag, Karina Ariev, Daniella Gilboa und Agam Berger zu sehen waren. Sie alle waren Mitglieder einer solchen Einheit. Auf dem Video ist zu sehen, wie Hamas-Terroristen die fünf jungen Frauen verschleppen. Sie werden bis heute als Geiseln gehalten.

Es wird am Ende noch viel Zeit brauchen, um aufzuklären, wie es zu dem massiven Versagen von Sicherheitsapparat und Politik kommen konnte. Der Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr, Carlo Masala, betont in diesem Zusammenhang, dass es darauf ankommt, aus Informationen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Und unter der Regierung Netanjahu, der sich selbst lange als Mr. Security inszenierte, wurden die Hinweise falsch gedeutet.

Mutmaßlich mit tatkräftiger Unterstützung der Islamischen Revolutionsgarden hatten sich die Hamas und ihre Verbündeten auf diesen Tag vorbereitet. Es wurden Studios eingerichtet. In diese sollte schon bald massenhaft Bildmaterial eingehen. Aufgenommen mit Bodycams und Smartphones, die die Truppen bei sich trugen, als sie die Grenzbefestigung durchbrachen. Sie zogen durch den Süden Israels, überfielen Städte, Militärbasen, Kibbuzim und das Nova-Festival in Re’im. Bilder, wie weiße Pickup-Trucks mit Terroristen auf der Ladefläche durch israelische Städte und Dörfer fuhren, schienen geradezu surreal.

Die Berichte der Überlebenden sind verstörend. Viele empfinden einen maximalen Vertrauensverlust, weil die Sicherheitsarchitektur des Staates, der sie schützen sollte, über Stunden wie zusammengebrochen schien. Und während Terroristen mordeten, verstümmelten, massakrierten und vergewaltigten, posteten pro-palästinensische Künstler*innen und Gruppen in sozialen Netzwerken „Free Palestine“. Die Entmenschlichung, die auf dem von der Hamas als Teil psychologischer Kriegsführung verbreiteten Bildmaterial zu sehen war, schien keineswegs abschreckend zu wirken.

Man könnte meinen, dass, wenn systematisch sexualisierte Gewalt eingesetzt wird, dass wenn der Körper von Frauen zum Kriegsschauplatz wird, dass wenn eine Symbolik eingesetzt wird, die an die Shoa erinnern soll, die Solidarität mit der Hamas in queeren, intersektionalen, feministischen sprich linken Bewegung, als Verbündete im Kampf um Befreiung und Gerechtigkeit zerbricht.

Doch es dauerte nicht lange, bis linke Intellektuelle diverser Couleur zu jubeln begannen. Es bildeten sich, etwas vereinfachend gesprochen, drei Gruppen innerhalb palästinasolidarischer Milieus heraus:

  • jene, die tatsächlich schockiert waren angesichts der Brutalität der Taten der Hamas und ihr Weltbild anpassen mussten;
  • jene, die sich strategisch zurückhielten und warteten, bis das Entsetzen über die Massaker und systematischen Vergewaltigung durch die Empörung über die anschließende israelische Militäroperation ersetzt wurde;
  • und jene, die in euphorisches Revolutionsgebaren ausbrachen.

Ganz anders in breiteren Teilen der Bevölkerung, in der die inszenierte Grausamkeit der Taten der Hamas für Wellen des Entsetzens sorgte. Zum ersten Mal seit langem Jahren schien Solidarität mit dem jüdischen Staat sowohl im medialen als auch politischen Raum eher der Konsens zu sein.

In den ersten Tagen nach dem 7. Oktober waren bereits die ersten Anzeichen zu vernehmen, dass sich bestimmte Entwicklungen weiter zuspitzen würden. Diese Entwicklungen hatte der eingangs bereits erwähnte Moishe Postone bereits 2012 im Interview mit der konkret angekündigt.

„Es gibt beispielsweise die Spielart des Antizionismus, die Israel eine globale Machtposition zuschreibt, die dieses Land ganz einfach nicht hat. Die ganze Problematik des Nahen Ostens wird immer wieder mit der Existenz des Staates Israel begründet. Dieses Denken ist sehr mächtig, und ich habe die Befürchtung, daß es weiter an Einfluß gewinnt.“[6]

Postone ahnte diese Entwicklung vor der Eskalation von israelbezogenem Antisemitismus in den Jahren 2014, 2021, 2022 und schließlich 2023. Er erlebte nicht mehr mit, wie der Antisemitismus die gesellschaftliche Polarisierung verschärfte, die sich in Ereignissen wie den rechtsterroristischen Anschlägen von Halle und Hanau, oder den sogenannten Corona-Protesten wiederspiegelte. Und das alles ist nicht im luftleeren Raum passiert.

Denn seit Jahrzehnten verhandelt die deutsche Gesellschaft ihr eigenes Selbstverständnis anhand ihres Verhältnisses zu Jüdinnen*Juden. Der leider viel zu früh verstorbene Essayist Eike Geisel sprach daher von der „Wiedergutwerdung der Deutschen“. Damit kritisiert Geisel geschichtspolitische Tendenzen in Deutschland, die zur Verklärung der eigenen Vergangenheit beitragen. Im Fokus steht der Versuch, jüdisches Leben zur Legitimation der eigenen weltpolitischen Rolle zu instrumentalisieren.

„Je heftiger sie sich mit den jüdischen Toten beschäftigten, desto lebendiger wurden sie selbst. Je gründlicher sie erforschten, was jüdisch sei, desto fundamentaler erfuhren sie sich als Deutsche; kurz: am 9. November 1989 wurde ein kollektives Bedürfnis befriedigt, das der manischen Beschäftigung mit den Juden logisch von Anbeginn zugrunde lag.“[7]

Die gegenwärtige Debatte um jüdische Lebenswirklichkeit und Antisemitismus in Deutschland zeichnet sich durch zweierlei aus: vulgären Antisemitismus, und den des guten Gewissens. Verkomplizierend kommt hinzu, dass damit sowohl Bagatellisierung als auch Externalisierung verflochten sind. Der Antisemitismus der wahrgenommenen Eigengruppe wird bagatellisiert und exklusiv einer Fremdgruppe zugeschrieben.

Von Konservativen und manchen Liberalen war zum Beispiel nach Jubelfeiern der inzwischen verbotenen PFLP-Vorfeldorganisation Samidoun auf der Berliner Sonnenallee im Anschluss an die Massaker der Hamas schnell zu vernehmen, dass man auf muslimischen und linksnationalistisch-palästinensischen Antisemitismus mit Abschiebungen reagieren will – obwohl, so viel Kommentar sei mir erlaubt, die Mehrheit der betroffenen Berliner Akteur*innen die deutsche oder eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen.

In der politischen Linken stand im Zentrum der Analyse, dass der meiste Antisemitismus von rechts komme, wobei man sich auf die polizeiliche Statistik zur Politisch motivierten Kriminalität stützte – und auch das möchte ich kommentieren, denn bekanntermaßen wird in dieser Eingangsstatistik alles als „rechts“ eingeordnet, was nicht anderweitig zugeordnet werden kann. Die Behauptung, dass Antisemitismus vor allem von rechts komme, steht angesichts dessen auf tönernen Füßen, wirkt wie aus Faschismusanalysen des vergangenen Jahrhunderts und soll wohl eher entlastend wirken.

Besonders wahrnehmbar waren diese Strukturen bei zwei gesellschaftspolitischen Ereignissen: bei der documentafifteen und der sogenannten Flugblatt-Affäre. Sie stehen in einem bemerkenswerten Verhältnis zueinander. Diejenigen, die während der documenta offensichtlich antisemitische Kunstwerke krampfhaft verteidigt hatten, waren nicht so zurückhaltend, als es um ein Shoa-glorifizierendes Flugblatt aus der Schulzeit eines Vize-Ministerpräsidenten ging. Diejenigen wiederum, die sich als leidenschaftliche Verteidiger*innen von Jüdinnen*Juden inszenierten, als es noch um die antisemitischen Darstellungen der weltweit bedeutendsten Reihe von Ausstellungen für zeitgenössische Kunst ging, wollten keinen Antisemitismus darin sehen, dass jemand sowohl in seiner Vergangenheit mutmaßlich neonazistisch engagiert war und in der Gegenwart verschwörungsideologischen Populismus betreibt.

Beide Ereignisse hatten katastrophale Folgen für die Normalisierung des Antisemitismus. Denn auch wenn die Akteur*innen, die so widersprüchlich handelten, es wohl nicht sehen möchten, hatten sie sich doch eigentlich in ihrer selektiven Antisemitismuskritik die Hand gereicht. Indem sie ihre Kritik so einseitig betrieben, haben sie deren Fundament untergraben. Wer Antisemitismus nur dann sieht, wenn es politisch nützlich ist, zeigt, wie wenig man das Phänomen tatsächlich begriffen hat – oder schlicht die Ignoranz demgegenüber.

Das Ende dieser Debatten spricht dann auch Bände: Bei der documenta wurde die Verhängung und der Abbau des antisemitischen Kunstwerkes „People’s Justice“ des indonesischen Kollektivs Taring Padi zum Happening, andere israelfeindliche und mit antisemitischen Stereotypen versehene Kunst wurde weiter ausgestellt. In der Flugblatt-Affäre gab es einen Fragebogen, den der bayerische Ministerpräsident zwar unzureichend beantwortet empfand, was ihn aber dennoch nicht davon abhielt am Ende wieder mit besagtem Akteur zu koalieren und ihn zum Vize-Ministerpräsidenten zu machen.

Die Symbolik dieser Ereignisse ist fatal: Antisemitismuskritik wurde zum politischen Vorwurf degradiert und klar signalisiert, dass niemand etwas zu befürchten habe, solange man nur die richtige Tonalität behält.

Gleichermaßen lässt sich auch in beiden Fällen die „Selbststilisierung als vermeintliches Opfer“ beobachten.[8] So führt Samuel Salzborn aus, dass der „jeweils eigene Antisemitismus […] nach einer legitimen Rechtfertigung [suche], […] dabei Ursache und Wirkung um[kehre] und […] sich selbst in die Rolle des Opfers einer angeblich ungerechtfertigten Kritik am Antisemitismus“ fantasiere.[9]

Etwas komplexer hatte diesen Mechanismus bereits 1962 Theodor W. Adorno erklärt:

„Darauf spekuliert tatsächlich einer der wesentlichen Tricks von Antisemiten heute: sich als Verfolgte darzustellen; sich zu gebärden, als wäre durch die öffentliche Meinung, die Äußerungen des Antisemitismus heute unmöglich macht, der Antisemit eigentlich der, gegen den der Stachel der Gesellschaft sich richtet, während im allgemeinen die Antisemiten doch die sind, die den Stachel der Gesellschaft am grausamsten und am erfolgreichsten handhaben.“[10]

Es handelt sich keineswegs um eine Strategie der postnazistischen Gesellschaft. So schrieb schon Heinrich von Treitschke, der Autor der Parole „Die Juden sind unser Unglück“, davon, dass – auch hier zitiere ich – „wer sich unterstand über irgend eine unleugbare Schwäche des jüdischen Charakters gerecht und maßvoll zu reden, ward sofort fast von der gesamten Presse als Barbar und Religionsverfolger gebrandmarkt.“[11]

Das Ablenkungsmanöver, das uns in diesem Zusammenhang begegnet, ist auch in anderen ideologischen und gesellschaftlichen Kontexten anzutreffen. Darüber berichtet zumindest der US-amerikanische Videoblogger Jay Smooth. In seinem Video „How to tell someone they sound racist“ erklärt er, dass es immer als „‚Was haben sie gesagt oder getan‘-Konversation“ beginne, daraus aber schnell eine „‚Was sie sind‘-Debatte“ gemacht werde.[12] Man „kenne die Person seit Jahren und man wisse sicher, dass sie kein Rassist sei“.[13] Wie grotesk dieses Manöver ist, versucht Smooth mit einem Beispiel zu verdeutlichen:

„Wenn mir ein Taschendieb das Portemonnaie klaut, dann renne ich ihm nicht hinterher, weil ich wissen will, ob er sich im tiefsten Innern seines Herzens für einen Dieb hält, sondern weil ich meine Brieftasche zurückhaben will. Es geht mir nicht darum, ihn dafür verantwortlich zu machen, was er ist, sondern dafür, was er getan hat.“[14]

Wie wichtig die Debatten im medial-diskursiven Raum sind, darauf hat die Linguistin Monika Schwarz-Friesel hingewiesen. Denn die Geschichte habe gezeigt, „dass Antijudaismus stets aus den Schreibstuben der Gelehrten kam, bevor er sich flächendeckend ausbreitete.“[15] Die Art und Weise, wie auf antisemitische Vorfälle durch Intellektuelle, durch politische, wirtschaftliche und kulturelle Eliten reagiert wird, hat großen Einfluss darauf, ob Antisemit*innen sich radikalisieren und ob sie schließlich zuschlagen.

Und das wirkt sich nicht nur auf direkt von Antisemitismus betroffene Menschen aus. Antisemitische Gewalt hat Signalwirkung, die Jüdinnen*Juden weltweit erreicht. Und die Folgen können dramatisch sein, wie Marina Chernivsky von der Beratungsstelle Ofek berichtet:

„Viele berichten von gestörtem Zeitempfinden, bedrückter Stimmung, Anzeichen einer Retraumatisierung und Antizipation weiterer Gewalt. Die letzten Wochen verdichten sich buchstäblich zu einem unübersichtlichen Komplex. Einige berichten, neben sich zu stehen, dem Alltag nicht mehr wie gewohnt nachgehen zu können. Es ist nicht überraschend, dass der Terror und Krieg sich auf die Psyche, auf den Körper und das soziale Leben massiv auswirken.“[16]

Und bei all dem, was Jüdinnen*Juden überall auf der Welt ähnlich erleben, muss noch mit in Betracht gezogen werden, wie sich die Situation in Deutschland dadurch unterscheidet, dass es sich um das Land der Täter*innen handelt. Wir können die Polarisierung, die Strategien, den spezifischen Diskurs um Antisemitismus und jüdisches Leben in Deutschland nicht verstehen, wenn wir uns nicht mit den besonderen Verhältnissen der postnazistischen und postkolonialen deutschen Gesellschaft beschäftigen.

Wir sprechen hier von einer „negativen Symbiose“, wie es Dan Diner einmal genannt hat. Diner meint, dass „das Ergebnis der Massenvernichtung zum Ausgangspunkt ihres Selbstverständnisses [also von Jüdinnen*Juden und Deutschen] geworden“ sei.[17] Damit hatte er bereits 1987 beschrieben, was sich bis heute auf den Umgang mit Antisemitismus auswirkt. Nämlich, dass sich die deutsche Gesellschaft selbst als „wiedergutgeworden“ begreift. Jüdinnen*Juden sollen als lebendiger Beweis dafür herhalten.

Wie sollte man sich selbst sonst erklären, dass Deutschland wieder eine der mächtigste Nationen der Welt ist? Wie sollte man sonst die sogenannte Wiedervereinigung als Erfolgsgeschichte feiern, während in ihrem Schatten Neonazis Asylunterkünfte in Brand steckten und jüdische Friedhöfe verwüsteten? Wie sollte man sonst 2006 ein Sommermärchen feiern, während der deutsche Nationalismus wieder sein hässliches Haupt erhob? Wie sollte man sonst nicht trotz, sondern wegen Auschwitz in den Krieg ziehen, während Historikerstreit, Walser-Bubis-Debatte und Grass-Skandal-Gedicht die Vergangenheit entstellten, um mit erhobenem Zeigefinger Jüdinnen*Juden oder dem jüdischen Staat die Leviten zu lesen? Wie sollte man sich sonst für seine angeblich so unvergleichliche Auseinandersetzung mit der Geschichte abfeiern, während Corona-Leugner*innen über die Straßen ziehen und sich dabei gelbe Ungeimpft-Sterne anheften? Wie sollte man sonst die militärische Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands als „Tag der Befreiung“ inszenieren, während inzwischen 30 Prozent der Deutschen glauben, ihre eigenen Groß- und Urgroßeltern wären im Widerstand gewesen oder hätten Verfolgten geholfen, obwohl die tatsächliche Zahl gerade einmal im Promillebereich lag?

Die Antwort darauf habe ich bereits gegeben. Der Antisemitismus ist immer das Problem der „Anderen“. Er wird in der sogenannten „Mitte der Gesellschaft“ negiert und auf vermeintliche Fremdgruppen projiziert. Es sei ein Problem radikaler politischer Gruppen. Ein Problem der Ewiggestrigen, der Linksradikalen oder Neonazis, der Muslim*innen. „Hier“, so ertönt es in etlichen Politiker*innenreden, sei „selbstverständlich kein Platz für Antisemitismus“. Lügen gestraft wird diese Aussage durch den zunehmend offener, gewaltvoller und wahrnehmbarer werdenden Antisemitismus. Lügen gestraft wird diese Aussage durch das Monitoring der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus. Lügen gestraft wird diese Aussage durch extrem rechte Politiker*innen, die in Parlamenten Antisemitismus verbreiten. Lügen gestraft wird diese Aussage durch Umfrageerfolge für eine extrem rechte Partei.

Antisemitismus, so stellte es Salzborn 2020 zutreffend fest, ist „nicht einfach eine abstrakte Bedrohung, sondern wieder blutige Realität“.[18] Und das passt so gar nicht zum Selbstverständnis des – zynisch gesprochen –  „Erinnerungsweltmeisters“.

Ehe ich im anschließenden Teil auf die Aufgabenbereiche und Herausforderungen von Antisemitismuskritik und -forschung eingehen werde, möchte ich mich noch zwei Ausdrucksformen des Antisemitismus widmen, die gegenwärtig von hervorgehobener Bedeutung sind: die Erinnerungsabwehr und der israelbezogene Antisemitismus. Und diese beiden Formen sind aufs Engste miteinander verflochten.

Ich finde die Frage befremdlich, wo Israelkritik aufhöre und Antisemitismus beginne. Es wird so getan, als handele es sich um verschiedene Schattierungen des gleichen Phänomens. Mal abgesehen von dem begrifflichen Ungetüm der „Israelkritik“, hat die Antisemitismusforschung in der Vergangenheit doch sehr deutlich gezeigt, was Antisemitismus ist. Und – was mir absolut redundant zu erwähnen scheint –, dass sachliche Kritik an der Politik der israelischen Regierung natürlich kein Antisemitismus ist. Die Frage, die mir immer wieder so routinemäßig gestellt wird, hat ein falsches Framing. Es geht doch nicht darum, ob die Kritik noch das richtige Maß hat, sondern, um mit Jan Philipp-Reemtsma zu sprechen, „in welcher Form der Judenhaß die Form von […] ‘Israelkritik’ annimmt.“[19]

Auf Verflechtung von Erinnerungsabwehr und israelbezogenem Antisemitismus hatte die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur in ihrem 2019 erschienenen Buch Überlegungen zur Frage des Antisemitismus hingewiesen. Horvilleur bemerkt, dass die „gegen die Jude erhobenen Anklagen […] häufig in irgendeiner Form auf die Geschichte der Anklagenden“ antworten würden.[20] So würde die „antizionistische Rhetorik in Frankreich und Großbritannien […] Israel zu einem kolonialistischen Unternehmen [machen]; in den Vereinigten Staaten hallt der Vorwurf des rassistischen Staates nach, und in Südafrika denkt man an die Apartheid“.[21] Daher kommt die Rabbinerin zu dem Schluss, dass die „antizionistische Kritik […] allenthalben autobiographische Züge“ trage.[22]

Zweifelsfrei ließe sich wohl noch ein sehr aktuelles Beispiel anfügen. Man denke an die Klage Nicaraguas gegen Deutschland wegen Beihilfe zum Völkermord vor dem Internationalen Gerichtshof. Es liegt nahe, dass Russland das Regime dazu zumindest ermuntert hat. Dabei sieht sich das Regime Putins selbst mit Völkermordvorwürfen aufgrund seines Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine und der damit einhergehenden Verbrechen zum Beispiel in Butscha konfrontiert.

Diese autobiographischen Züge sind in der deutschen Gesellschaft sowohl postnazistisch als auch postkolonial. Insofern dürfte es nicht überraschen, dass Gleichsetzungen von Zionismus und Israel sowohl mit Kolonialismus – sprich Siedlerkolonialismus – als auch mit dem Nationalsozialismus – man denke an Gaza als Konzentrations- oder Vernichtungslager – stattfinden.

Oft wird dabei Umwegkommunikation genutzt, um die vermuteten Tabus über dem Antisemitismus zu umgehen. Im Zusammenhang mit israelbezogenem Antisemitismus scheint „antisemitische Umwegkommunikation […] oft zu antisemitischem Umweghandeln“ zu führen.[23] Gewalt gegen alle Jüdinnen*Juden, die nicht den antizionistischen Loyalitätstest bestehen, wird damit legitimiert, dass sie die Stellvertreter*innen eines rassistischen, völkermordenden, archaischen, kolonialistischen und irgendwie künstlichen Gebildes seien.

Inwiefern dieser israelbezogene Antisemitismus Ausdruck autobiographischer Züge dieser Gesellschaft sein kann, hat Salzborn analysiert, ich zitiere:

„All die verdrängte Wut und der verschobene Hass auf die unbewussten Familienerbschaften und die Nicht-Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichten richtet sich nun wieder bei der Generation der Nachgeborenen gegen die Juden und ihren Staat, der nun militärisch dazu in der Lage ist, sich gegen die AntisemitInnen zu wehren – und der verdrängte Hass tritt auf diesem Umweg wieder ans Licht, einem Umweg, der es ersparte, sich seine Wut und seinen Zorn gegenüber seinen Eltern und Großeltern eingestehen zu müssen, da man nun nicht mehr sie hassen musste, sondern mit ihnen gemeinsam hassen kann.“[24]

Teil 2: Aufgaben der Antisemitismuskritik/forschung

Kommen wir damit zum zweiten Teil, in dem ich mich nun der Leitfrage meines Vortrags zuwenden möchte: Was können Antisemitismusforschung und -kritik in dieser Situation leisten? Eine Situation, in der der Ausnahmezustand der Normalzustand geworden ist.

Als erstes stehen wir vor dem Problem, dass in breiten Teilen der Bevölkerung kein tiefgreifendes Verständnis von Antisemitismus vorhanden ist. Hierbei sehe ich allerdings vor allem die Bildungsarbeit in der Pflicht. Und damit meine ich ein umfassendes Verständnis von Bildungsarbeit. Es geht sowohl darum, wie wir es schaffen, die bisherige Vermittlung in Schulen auf den Prüfstand zu stellen, als auch die in Universitäten und Erwachsenenbildung. Zuweilen werden Bildung und Dialog wie Patentrezepte präsentiert. Als großer Wurf und einfache Lösung zugleich. Doch was wie eine einfache Lösung klingt, bescheinigt eigentlich das weitreichende Versagen von dem, was derzeit als „Präventionsarbeit” bezeichnet wird. Inwiefern man von Prävention sprechen kann, wo Antisemitismus als Teil der Kultur bei vielen schon Teil der Sozialisierung ist, sei einmal dahingestellt.

Wenn ich über die Probleme dieser Präventionsarbeit spreche, dann meine ich explizit nicht die, die vor allem von zivilgesellschaftlichen Initiativen betrieben wird. Denn diese haben sich in der jüngeren Vergangenheit gerade als wichtiges Korrektiv dessen bewiesen, was gerade im staatlichen Bildungswesen an Missständen perpetuiert wurde.

Ein solcher Missstand ist nicht nur das mangelhafte, sondern auch das fehlerhafte Wissen, das in der staatlichen Präventionsarbeit oft vermittelt wird. Jan Philipp Reemtsma weist darauf hin, dass sogenannte Ursprungserzählungen verbreitet sind. Sie versuchen Antisemitismus zu erklären, indem sie ihn mit bestimmten Entwicklungen innerhalb der jüdischen Geschichte in Verbindung setzen. Statt die Projektionen kritisch zu analysieren, wird davon ausgegangen, dass es tatsächlich etwas Ursächliches hinter den antisemitischen Stereotypen gäbe. Reemtsma pickt hier das Beispiel raus, dass „etwa das Bild vom geldgierigen Juden auf die besondere Rolle von Juden im Finanzgeschäft zurückgeführt“ werde.[25]

Es tut sich ein Abgrund auf, zwischen dieser vermeintlich historischen Erklärweise und dem wertkritischen Ansatz eines Moishe Postone. Am Ende bleibt doch bei dieser vermeintlichen Erklärung hängen, dass doch etwas dran sei, am Antisemitismus. Denn irgendwie haben die Jüdinnen*Juden ja selbst dazu beigetragen, durch ihr Verhalten – beziehungsweise in diesem Beispiel: durch ihre Tätigkeit in der Finanzwirtschaft.

Dass das antisemitische Denken genau darauf aufbaut, Jüdinnen*Juden aus ihrer Verfolgung ein Strick zu drehen, hatte schon der große Historiker der jüdischen Geschichte, Heinrich Graetz, erkannt:

„Für eine von Chauvinismus und Verbitterung getrübte Logik ist die Wahrheit unzugänglich. Diese Logik urtheilt: Weil die Juden seit fünfzehnhundert Jahren ungerecht, grausam, ‚diabolisch‘ verfolgt wurden – darum müssen sie noch weiter verfolgt werden.“[26]

Ebenso, wie sich eine seriöse Antisemitismusforschung derlei fragwürdigen Erklärungsansätzen entziehen sollte, kann es ebenso wenig ihre Aufgabe sein, lediglich als Prüfstelle für das Label „Antisemit*in“ in der öffentlichen Debatte zu dienen. Nicht nur, weil – wie bereits dargestellt – derartige „was-ist-jemand“-Diskussionen oft an der Sache vorbeigehen, sondern auch, weil von vulgären Antisemit*innen einmal abgesehen, der Antisemitismus des guten Gewissens überwiegt. Ein akademisch vergebenes – mal ins Unreine gesprochen – „Qualitätssiegel“, dürfte in der gegenwärtigen Polarisierung weder Erkenntnisgewinn mit sich bringen, noch zur Entschärfung beitragen.

Die Antisemitismusforschung muss nicht bequem sein. Sie muss keine Rücksicht nehmen auf Befindlichkeiten. Doch ein wissenschaftlich bestätigter Antisemitismusverdacht würde ohnehin derzeit nur wenig ändern – und ebenso sei angemerkt, dass eine über jeglichen Zweifel erhabene Einordnung oft enormer Ressourcen und einer Bereitschaft zur psychoanalytischen Beratung bedürfte.

Urteile wie „Antisemit*in“ und „Rassist*in“ werden schnell im Munde geführt. Oft bleibt dabei allerdings die Erklärung offen und es wird vergessen oder mindestens intendiert, dass damit jedes weitere Gespräch aussichtslos erscheint. Denn Antisemit*innen sind nicht an einem Austausch interessiert. Antisemit*innen müssen konfrontiert werden, ihnen sollte man nicht die Hand reichen.

Doch wir leben in einer Kultur, der deutschen respektive europäischen, die durchzogen ist vom Antisemitismus. Viele Menschen bedienen sich antisemitischer Denkmuster und Stereotype. Würden wir mit ihnen allen die Brücken abbrechen, würde es noch einsamer werden, als es ohnehin schon ist.

Noch schwerwiegender wäre allerdings, dass damit Bildungsarbeit verunmöglicht würde. Denn diese muss den Raum dafür schaffen, dass auch problematische Haltungen artikuliert werden. Sie muss diese allerdings einordnen können. Und es müssen dort klare Grenzen gezogen werden, sobald es sich um geschlossene Weltbilder handelt und sobald es zu Gewalt kommt.

Ziel von Forschung und Kritik sollte es sein, die oft unterkomplex geführten Debatten mit dem notwendigen Wissen zu unterfüttern. Kurz vor der kommenden Heim-EM sei mir erlaubt zu sagen, dass es in Deutschland genau so viele Fußballnationaltrainer*innen wie Antisemitismusexpiert*innen gibt. Wobei die Meinung oft die Expertise übersteigt. Dabei hatte der bereits zitierte Theodor W. Adorno doch ebenfalls schon einmal zum besten gegeben, dass sich die „Resistenzkraft der bloßen Meinung […] aus deren psychischer Leistung“ erklären ließe: „Sie bietet Erklärungen an, durch die man die widerspruchsvolle Wirklichkeit widerspruchslos ordnen kann, ohne sich groß dabei anzustrengen“.[27] Das hallt nach in der oft ausbleibenden Selbstreflexion innerhalb öffentlich geführter Debatten um Antisemitismus.

Wie Salzborn in seinem kürzlich erschienenen Buch Wehrlose Demokratie festgestellt hat, wurde der „Kampf gegen Antisemitismus systematisch, d.h. als institutionalisierte staatliche Verpflichtung, erst vor wenigen Jahren begonnen“.[28] Damit einher geht, dass es an etlichen Stellen Handlungsbedarf gibt. Aufgabe der Antisemitismusforschung und -kritik muss es sein, diese Leerstellen zu analysieren und Handlungsmöglichkeiten zu erforschen.

Nicht jede Maßnahme, die derzeit im politisch-medialen Diskurs erörtert wird, ist dazu geeignet oder verhältnismäßig, um der antisemitischen Mobilisierung und Radikalisierung nachhaltig etwas entgegenzusetzen. Viele Maßnahmen erscheinen als Aktionismus, als vermeintlich einfache Lösungen, die bei genauerer Betrachtung nicht halten können, was sie versprechen.

Ein weiteres notwendiges Betätigungsfeld ist die Internetkommunikation. Monika Schwarz-Friesel hat 2015 darauf hingewiesen, dass „die Tabuisierungsschwelle, Verbal-Antisemitismen zu artikulieren, signifikant gesunken ist und dass auch in der massenmedialen Nahostberichterstattung antisemitische Stereotype vermehrt ihren Ausdruck finden“[29]. Das hat sich zweifelsohne seit 2015 noch einmal deutlich verstärkt. Nicht nur während der Corona-Pandemie, sondern auch während der militärischen Auseinandersetzung zwischen Hamas und IDF im Anschluss an den Eigentumsstreit in Sheikh Jarrah 2021, den Konflikt zwischen der IDF und dem Palästinensischen Islamischen Jihad 2022 und rund um den Überfall der Hamas und die anschließenden israelischen Militäroperationen am 7. Oktober 2023. Noch weiter verschärft sich die Online-Situation durch ganze Trollfabriken autokratischer Regime, die antidemokratische Inhalte, insbesondere antisemitische, in sozialen Netzwerken verbreiten. Gerade Russland und der Iran waren in den vergangenen Monaten intensiv daran beteiligt, den hybriden Krieg gegen Israel und die Bedrohung gegen Jüdinnen*Juden weltweit zu unterstützen. Ergänzt wird das noch durch Aktivist*innen und Influencer, wie auch islamistische, antiimperialistische und neu- sowie extrem rechte Bewegungen, die zum Teil ihre Inhalte erfolgreich in sozialen Medien verbreiten. Auf TikTok und Instagram erreichen derartige Videos und Postings ein Millionenpublikum, ohne dass kritische Einordnung oder Widerspruch möglich sind.

Sowohl islamistische als auch neu- und extrem rechte Akteur*innen sind derzeit recht erfolgreich darin, junge Menschen über soziale Netzwerke zu mobilisieren. Am deutlichsten wird das wohl an den Gruppen Muslim Interaktiv und der Identitären Bewegung. Kürzlich bemerkte Volker Weiß in der SZ, ich zitiere, dass die „streng gestutzten Bärte und sauber gescheitelten Frisuren, T-Shirts mit dem Gruppen-Logo, die Tiktok-Agitation redegewandter Kader und ihre medienwirksamen Aktionen […] sie“, also Muslim Interaktiv, „als islamistischen Zwilling der rechtsextremen Identitären Bewegung“ ausweise.[30]

Ebenso wie eines der auffälligsten Merkmale der Identitären ihre mediale Performance ist, so kann man auch bei der Gruppierung Muslim Interaktiv beobachten, dass sie „von Provokationen“ lebt und „versucht, aus der medialen Aufmerksamkeit das Beste herauszuholen“.[31] Weiß bemerkt, dass beide Gruppierungen „Ordnungsvorstellungen in Geschlechterfragen, das statische Kulturverständnis sowie eine verzerrende Traditionspflege“ miteinander teilen.[32] Ihre analogen Kundgebungen, Demonstrationen und Flashmobs haben vor allem zum Ziel, den digitalen Raum zu erobern. Sie haben verstanden, wie man junge Menschen anspricht. Die historischen Wurzeln der Verbindung von Muslim Interaktiv und der Rechten reichen an die zwanzig Jahre zurück. 2003 erhielt Hizb ut-Tahrir, die Dachorganisation aus der Muslim Interaktiv hervorgegangen ist, ein Betätigungsverbot unter Innenminister Otto Schily. Bis dahin pflegte sie freundschaftlichen Dialog mit der NPD, die heute Die Heimat heißt.[33] Verbunden waren diese Bewegungen nicht nur durch Ordnungsvorstellungen, sondern auch durch gemeinsame ideologische Feinde. Beiderlei waren ideologisch durch Antiamerikanismus und Antisemitismus geprägt.

In den sozialen Medien stellen sich Islamist*innen und neu- wie auch extrem Rechte als diejenigen dar, die die Probleme, Sorgen und Nöte der Jugend wirklich adressieren. Sie springen da ein, wo es zum Beispiel im staatlichen Bildungssystem mangelt. Während viele Lehrkräfte unter der schieren Überforderung nach dem 7. Oktober zusammenbrachen und versuchten, oft ohne angemessene Unterstützung, die Situation zu managen, traten diese Bewegungen mit schlüssigen Narrativen und klaren Feindbildern auf. Sie fluteten die sozialen Netzwerke. Gaben sich als die Stimme der jungen Generation. Sprachen vermeintlich ihre Probleme an und framten das wahlweise mit Rassismus, Antisemitismus, Antiamerikanismus, Queerfeindlichkeit und Misogynie.

Auch hierbei sind Antisemitismusforschung und -kritik in der Pflicht. Es gilt das Vorgehen, die Narrative und die Verbindungen zwischen unterschiedlichen Bewegungen zu analysieren und zu erörtern, wie ihren Strategien auch im digitalen Raum etwas entgegengesetzt werden kann.

Schluss

Kommen wir zum Ende meines Vortrags. Ich möchte dafür noch einmal auf eine Bemerkung Adornos zurückgreifen. Diese wirkt etwas irritierend, wenn man sich das Publikum genauer anschaut, vor dem er sie formulierte. 1962 war der Philosoph auf Einladung des Koordinierungsrats der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit bei der Ersten Europäischen Pädagogen-Konferenz eingeladen, um über die Bekämpfung von Antisemitismus zu sprechen.

Folgende Ausführungen wirken allerdings recht unpädagogisch. Ich zitiere:

„Diesen Menschen gegenüber, die im Prinzip selber lieber auf Autorität ansprechen und die sich in ihrem Autoritätsglauben auch nur schwer erschüttern lassen, darf auf Autorität auch nicht verzichtet werden. Wo sie sich ernsthaft vorwagen bei antisemitischen Manifestationen, müssen die wirklich zur Verfügung stehenden Machtmittel ohne Sentimentalität angewandt werden, gar nicht aus Strafbedürfnis oder um sich an diesen Menschen zu rächen, sondern um ihnen zu zeigen, daß das einzige, was ihnen imponiert, nämlich wirklich gesellschaftliche Autorität, einstweilen denn noch gegen sie steht. Auch die Argumentationen, die man ihnen gegenüber vorbringt, müssen von vornherein so angelegt sein, daß sie, ohne daß man dabei irgend von der Wahrheit abginge, Menschen erreichen können, die eine solche Charakterstruktur haben.“[34]

Man könnte meinen, dass Theodor W. Adorno sein eigentliches Thema verfehlte, als er den Anwesenden nahegelegte, „die wirklich zur Verfügung stehenden Machtmittel ohne Sentimentalität“ anzuwenden. Nicht nur, weil die Konferenz sich mit „Vorurteilen“ beschäftigte und Adorno ziemlich schnell verdeutlichte, dass sich Antisemitismus nicht als solches abstempeln lässt.

Sondern auch, weil das oben Zitierte doch wenig nach einem konkreten pädagogischen Maßnahmenplan klingt. Der Philosoph verfolgte allerdings eine Art Doppelstrategie. Diese ‚Doppelstrategie‘ verdeutlicht Adorno anhand einer Anekdote über eine Gruppe von Chauffeuren im Dienste des US-amerikanischen Militärs. Adorno hörte, wie sie sich antisemitisch äußerten und ließ sie kurzerhand verhaften. Insbesondere vor dem nahen Hintergrund der Shoa wäre es wohl nachvollziehbar gewesen, wenn er sich nun nicht weiter um sie geschert hätte. Doch er handelte anders: Er fuhr mit den Festgenommenen auf die Wache und diskutierte dort mit ihnen weiter.[35]

Es gibt gute Gründe, warum der Suhrkamp-Verlag diesen Vortrag, der ursprünglich recht versteckt in den Gesammelten Werken Adornos erschien, nach dem 7. Oktober 2023 neu aufgelegt hat. Dieses Datum hat die bedrohliche Gegenwart antisemitischer Gewalt bei vielen Menschen noch einmal neu ins Bewusstsein gerückt. Dabei scheinen die oben zitierten Überlegungen Adornos so aktuell wie eh und jeh.

Einerseits ließ sich ein massiver Anwuchs an physischen Gewalttaten beobachten, andererseits fand der Großteil antisemitischer Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsschwelle statt. Damit ist klar, dass wir mit einer Strategie, die allein auf Law-and-Order abzielt, nicht weiterkommen. Eine nachhaltige Konfrontation des gegenwärtigen Antisemitismus ist darauf angewiesen, eine Doppelstrategie zu fahren. Der Antisemitismusforschung und -kritik kommt hierbei die Aufgabe zu, die Maßnahmen staatlicher Antisemitismusbekämpfung beständig zu evaluieren und inhaltlich zu unterfüttern.

Genauso muss sie intervenieren, wenn das von mir als „Was-ist-jemand“-Diskussionen bezeichnete „Trojanische Pferd der Antisemitismusverharmlosung“[36] auftaucht. Diese Form der Bagatellisierung spielt im postnazistischen Deutschland, in dem es unchic ist, Antisemit*in zu sein, eine genauso wichtige Rolle, wie beim Antisemitismus des guten Herzens. Auch weil diese Form der Bagatellisierung eine so zentrale Rolle einnimmt, dürfte auch weiterhin wichtig sein, dass Antisemitismusforschung und -kritik Antisemitismus in all seinen Artikulationsformen und Strukturen beschreibt. Dabei sollte sowohl wert darauf gelegt werden, Definitionen zu liefern, die die wissenschaftliche Debatte voranbringen, als auch solche, die gerade in der Praxis antisemitismuskritischer Bildungsarbeit, Prävention, Monitoring, Betroffenenberatung, wie auch der juristischen Auseinandersetzung nutzbar sind.

In dieser postnazistischen und postkolonialen deutschen Gesellschaft ist die Auseinandersetzung mit Antisemitismus von starken Abwehrreflexen geprägt. Dennoch wurden in den vergangenen Jahrzehnten Anstrengungen unternommen, dem durch Forschung und Kritik zu begegnen. Diese Anstrengungen waren nicht immer von Erfolg geprägt. Dass es inzwischen nun auch im beschaulichen Trier eine so wichtige Initiative zur interdisziplinären Antisemitismusforschung gibt, werte ich als wichtige Entwicklung.

Gerade auch in diesem Bereich sollten Selbstreflexion und Weiterentwicklung fest verankert sein. Deshalb halte ich den Verweis auf die interdisziplinäre Herangehensweise für äußerst sinnvoll. Antisemitismus ist ein so vielfältiges Phänomen, dass es der wissenschaftlichen Auseinandersetzung nur dienlich sein kann, so interdisziplinär wie möglich betrieben zu werden. Es sollte dabei meines Erachtens auch keine Berührungsängste mit postkolonialer Forschung und Konzepten geben. Vielmehr bieten Erkenntnisse der Antisemitismusforschung, wie es zum Beispiel Karin Stögner oder David Schraub mit seinem Aufsatz „White Jews: An intersectional approach“ gezeigt haben, wichtige Impulse, um in den USA hervorgebrachte Konzepte auch im Kontext der postnazistischen und postkolonialen deutschen Gesellschaft produktiv zu machen. Das wäre sicher im Sinne eines so großen, wie auch zuweilen widersprüchlichen Intellektuellen wie Moishe Postone gewesen.


Belege

[1] Schmidt, Philipp (2018): Zum Tod von Moishe Postone. “Die Deutschen inszenieren sich am liebsten als Opfer”, online verfügbar: https://cms.konkret-magazin.de/aktuelles/aus-aktuellem-anlass/aus-aktuellem-anlass-beitrag/items/zum-tod-von-moishe-postone.html, zuletzt abgerufen am: 12.05.2024.

[2] Grigat, Stephan (2018): Ein Nachruf auf den Theoretiker Moishe Postone. Revolutionär der Antisemitismuskritik, online verfügbar: https://jungle.world/artikel/2018/13/revolutionaer-der-antisemitismuskritik, zuletzt abgerufen am: 12.05.2024.

[3] Grigat: Nachruf.

[4] Vgl. Schmidt: Tod.

[5] Postone, Moishe: Bitburg: 5. Mai 1985 und danach. Ein Brief an die westdeutsche Linke, in: Fried, Barbara / Kleist, Olaf / Wolf, Gerhard / Wehrhahn, Sebastian (Hrsg.): Deutschland, die Linke und der Holocaust: Politische Interventionen, Freiburg im Breisgau 2005, S. 51-58, hier: S. 56f.

[6] Schmidt: Tod.

[7] Geisel, Eike: „Zweimal 9. November“, in: Geisel, Eike: Die Wiedergutwerdung der Deutschen, Berlin: Edition TIAMAT 2015, S. 43-47, hier S. 47.

[8] Salzborn, Samuel: Wehrlose Demokratie? Antisemitismus und die Bedrohung der politischen Ordnung, Leipzig 2024, S. 97.

[9] Salzborn: Demokratie, S. 97.

[10] Adorno, Theodor W.: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, in: Ders.: Gesammelte Schriften. 20.1. Vermischte Schriften, Frankfurt am Main 1997, S. 360-383, hier: S. 363.

[11] von Treitschke, Heinrich: Unsere Aussichten, in: Berg, Nicolas (Hrsg.): Der Berliner Antisemitismusstreit, Berlin 2023, S. 61-74, hier: S. 69.

[12] Zitiert nach: Reisin, Andrej (2022): Man muss kein Nazi sein, um antisemitische Klischees zu verbreiten, online verfügbar: https://uebermedien.de/78749/man-muss-kein-nazi-sein-um-antisemitische-klischees-zu-verbreiten/, zuletzt abgerufen am: 12.05.2024.

[13] Zitiert nach: Reisin: Nazi.

[14] Zitiert nach: Ebd.

[15] Schwarz-Friesel, Monika (2015): Gehobener Judenhass, online verfügbar: https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/gehobener-judenhass/, zuletzt abgerufen am: 11.05.2024.

[16] Heinsch, Marc-Julien (2023): „Einen so offenen Antisemitismus haben Juden in Deutschland nach 1945 vielleicht noch nicht erlebt“, online verfügbar: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/interview-beratungsstelle-antisemitismus-ofek-bw-betroffene-102.html, zuletzt abgerufen am: 11.05.2024.

[17] Diner, Dan: „Negative Symbiose – Deutsche und Juden nach Auschwitz“, in: Diner, Dan (Hrsg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1987, S. 185–197, hier S. 185.

[18] Salzborn, Samuel: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern, Leipzig 2020, S. 16.

[19] Reemtsma, Jan Philipp (2024): Antisemitismus – was gibt es da zu erklären? (unveröffentlichtes Redemanuskript), Vortrag 15.1.2024, Universität für angewandte Kunst Wien.

[20] Horvilleur, Delphine: Überlegungen zur Frage des Antisemitismus, Berlin 2019, S. 115.

[21] Horvilleur: Überlegungen, S. 115.

[22] Ebd.

[23] Salzborn: Demokratie, S. 86.

[24] Salzborn: Unschuld, S. 22.

[25] Reemtsma: Antisemitismus.

[26] Graetz, Heinrich: Mein letztes Wort an Professor von Treitschke, in: Berg, Nicolas (Hrsg.): Der Berliner Antisemitismusstreit, Berlin 2023, S. 118-124, hier. S. 118.

[27] Adorno, Theodor W.: Meinung – Wahn – Gesellschaft, in: Tiedemann, Rolf / Adorno, Gretel / Buck-Morss, Susan / Schultz, Klaus (Hrsg.): Kulturkritik und Gesellschaft. Gesammelte Schriften 10.2., S. 573-594, hier: S. 580.

[28] Salzborn, Samuel: Wehrlose Demokratie? Antisemitismus und die Bedrohung der politischen Ordnung, Leipzig, 2024, S. 17.

[29] Schwarz-Friesel, Monika (2015): Gehobener Judenhass, online verfügbar: https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/gehobener-judenhass/, zuletzt abgerufen am: 11.5.2024.

[30] Weiß, Volker (2024): Hamburger Demonstrationen für ein Kalifat – und die Reaktion; Allahs Identitäre; Gruppen wie „Muslim Interaktiv“ machen im Schatten des Gaza-Kriegs zunehmend mobil. Sie sind die islamische Variante der rechten Bedrohung, online verfügbar: https://www.sueddeutsche.de/kultur/muslim-interaktiv-demonstrationen-kalifat-hamburg-1.6939996?reduced=true, zuletzt abgerufen am: 22.05.2024.

[31] Weiß: Demonstrationen.

[32] Ebd.

[33] Vgl. Ebd.

[34] Adorno, Theodor W.: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, Berlin, 2024, S. 18.

[35] Adorno: Bekämpfung, S. 49f.

[36] Salzborn: Demokratie, S. 96f.


Zitationsvorschlag

Autor:in

  • Monty Ott

    Monty Ott ist politischer Schriftsteller sowie Politik- und Religionswissenschaftler. Er publiziert regelmäßig zu tagespolitischen Themen und beschäftigt sich in seinen Beiträgen mit Antisemitismus, Erinnerungskultur, Intersektionalität und Queerness. Seit über einem Jahrzehnt engagiert er sich in der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit. Anfang 2023 ist sein gemeinsam mit Ruben Gerczikow verfasster Reportageband »›Wir lassen uns nicht unterkriegen‹ – Junge jüdische Politik in Deutschland« erschienen.

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